Was ist vom Nationalsozialismus in einigen deutschen Psychiatrien übrig geblieben? 

Die Zeit zwischen 1933 und 1945 war ein dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte. Es herrschte ein System der Unterdrückung und Vernichtung von Menschen, die nicht in das Bild des Rassenwahns der Nazis passten. Am Ende standen eine fast komplette Zerstörung Deutschlands und die systematische Ermordung von Behinderten, Juden, Russen und anderen Menschen, die als „minderwertiges Leben“ eingestuft wurden. Die Deutschen hielten sich für die Herrenrasse und die Ermordung Behinderter wurde von Hitler als „Gnadentod“ bezeichnet.

Nach Kriegsende wurden die Psychiater der Nazis, die auch Menschenversuche und Ermordungen durchführten, wieder in den Kliniken eingesetzt. Sie lehrten den neuen Psychiatern ihre Art der Behandlung. Erst in den 1970er Jahren kam ein öffentliches Interesse an der Behandlung in der Psychiatrie auf. Es kam um 1980 zu einer Psychiatriereform, die aber bis heute, 2018, nicht abgeschlossen ist. Es fällt der Psychiatrie schwer, von alten Behandlungsstrukturen abzurücken. Die Einrichtung von Soteriakliniken ist bei den Nutzern sehr beliebt, aber dem Staat und den Krankenkassen scheinbar zu teuer. Heute werden zwar keine Patienten in Vernichtungslager geschickt, aber die Strukturen des Nazisystems sind teilweise noch zu erkennen. Da wäre zum Einem die Erfassung von Menschen, die in der Psychiatrie waren. Jeder mit PsychKG eingewiesene Patient steht bei der Polizei auf der Liste. Aber auch Menschen, die auf Drängen von Nachbarn oder Angehörigen psychiatrisch untersucht werden, landen in der Liste der Klinik, die diese Untersuchung durchführte, selbst, wenn keine psychische Erkrankung festgestellt werden konnte. Die Daten werden über Jahre gespeichert. Der Staat möchte die Kontrolle über psychisch Erkrankte haben. Möglichst soll jeder Patient Psychopharmaka nehmen, auch über viele Jahre, und sich regelmäßig bei einem Psychiater melden.

Viele Menschen mit seelischer Erkrankung sind heute unter Rechtsbetreuung gestellt. Der Betreuer kann theoretisch den Aufenthalt bestimmen und die Einweisung in die Psychiatrie veranlassen, sowie die Finanzen kontrollieren. Auch eine Zwangsbehandlung kann der Betreuer beantragen. Die Gesetze werden immer wieder verbessert, z.B. das PsychKG (Landesgesetze), oder auch das Maßregelvollzugsgesetz. Letzteres wurde Ende 1933 eingeführt. Bis heute führt das Gesetz dazu, dass Menschen lange weggesperrt bleiben, selbst bei geringer Straftat. Einige dieser Langzeitpatienten wurden inzwischen entlassen, aber wegen ihrer Hospitalisierung oft in geschlossene Wohnheime verlegt. In Niedersachsen wird ein ehemalige KZ, Moringen, als forensische Psychiatrie genutzt.

Hier einige Stichpunkte, die noch heute an Methoden des NS-Regimes erinnern:

-          Es gibt immer noch Sondergesetze für psychisch Kranke mit dem Entzug einiger Grundrechte, Menschenrechte und Patientenrechte.

-         Die Polizei speichert die Daten von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die nach PsychKG eingewiesen wurden, ohne dass eine Straftat vorliegen muss.

-          Es herrschen immer noch Zwang und Gewalt in vielen Kliniken.

-     Es soll Mitarbeiter in Psychiatrien geben, die ihre Stellung nutzen, um Macht über andere Menschen ausüben zu können. 

-          Man bekommt eine Diagnose, die man nicht mehr loswird (lange Datenspeicherung)

-          Einweisung nach PsychKG und Betreuungsrecht sind Freiheitsentzug auch ohne begangene Straftat.

-          Patienten haben in der Klinik keinen rechtlichen Anspruch auf Ausgang an die frische Luft (im Strafvollzug aber täglich 1 Stunde)

-          Den Maßregelvollzug hat man nicht abgeschafft, nur etwas entschärft. Es war ein Mittel der Nazis. Selbst bei kleineren Straftaten kann man heute theoretisch bis an sein Lebensende in Verwahrung bleiben. Erst 2015 wurde hier durch öffentlichen Druck entschieden nachgebessert. 

-          Wenn man eine Person abschieben möchte, die schon in der Psychiatrie bekannt ist, kann man ihm eine Straftat anlasten und der Betroffene wird ohne dazu gehört zu werden mit Polizei in die geschlossene Psychiatrie gebracht und kann dort mit einem richterlichen Beschluss untergebracht werden. Niemand ist nach der aktuellen Gesetzeslage für die Prüfung der Vorwürfe verantwortlich.

 

Heute kann man  Medikamente immer noch gegen seinen Willen bekommen. Man kann heute auch einen Rechtsbetreuer gegen seinen Willen bekommen, der einen kontrolliert, das Geld einteilt und Dinge vorschreibt. Man möchte also noch immer alle psychisch Kranken unter Kontrolle haben.

Den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) gibt es seit über 20 Jahren. Er möchte eine Psychiatrie ohne Zwang und Gewalt. Wir haben seit 2009 in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Der Staat hat die Gesetze entsprechend anzupassen. Dies hat er aus Sicht des BPE bis heute nicht ausreichend getan. Auch das neue PsychKG in Bayern sieht man kritisch.

Es ist nicht leicht, sich als Betroffener zu engagieren:

Um sich als Betroffener zu äußern und zu engagieren, um das System zu verbessern, bedarf es vieler Voraussetzungen. Der Betroffene muss etwas über seine Erkrankung lernen, er muss das psychiatrische System verstehen lernen und sollte nicht übermäßig hoch mit Medikamenten dosiert sein. Dann kann man z.B. einen EX-IN Kurs besuchen und auf Augenhöhe mit den „Profis“ reden. Viele Betroffene haben aber Angst, sich öffentlich zu äußern, Angst vor noch mehr Pillen, Angst vor Bestrafung, weil sie durch das System eingeschüchtert sind. Nur ganz wenige Betroffene haben es geschafft, sich im System Anerkennung zu verschaffen und Kritik an den richtigen Stellen anzubringen, z.B. Dorothea Buck aus Hamburg, die aber fast nie Psychopharmaka bekam. Die Psychopharmaka wurden aber erst in den 1960er Jahren eingeführt. Zunächst galten sie als „Wundermittel“, heute leiden aber viele Patienten an Langzeitschäden.

Bremen ist gerade dabei EX-INler (Genesungsbegleiter) anzustellen. Aber da ist die Angst einiger Mitarbeiter, dass man sie ja in ihrer Arbeit kritisieren könnte. Und die vielen Betreuer, die noch mehr Geld wollen. Rechtsbetreuer ist heute ein Beruf, ohne richtige Ausbildung, aber mit über 40 Euro pro Stunde honoriert. Warum zeigen die Betreuer ihren Klienten nicht einfach wie man was macht und regelt, statt ihnen alles vorzuschreiben? Eine Assistenz zur Förderung der Selbstständigkeit wäre wünschenswert.

Die wenigen aktiven Betroffenen in Bremen werden im Rahmen der Psychiatriereform in Planungen und Entscheidungen eingebunden. Dabei ist es nicht möglich, dass beide Seiten auf ihrem Standpunkt beharren, sondern man muss aufeinander zugehen und Kompromisse aushandeln. Hier wird somit aktuell Demokratie gelebt. Im "Dritten Reich" wäre dies nicht möglich gewesen. Die Betroffenen sollten ein Interesse daran haben, diese Demokratie zu erhalten und um sie zu kämpfen. Wir brauchen mehr engagierte Psychiatrie-Erfahrene.  

Das System muss sich ändern, um den mündigen Patienten zu schaffen. Ohne Zwang und Gewalt in der Behandlung. Die Kliniken sollten nicht als Erziehungsanstalten missbraucht werden. Sie sollen Krankheiten lindern. Patienten werden in einigen Kliniken immer noch provoziert, um sie fixieren zu können und ihnen eine intramuskuläre Injektion mit Antipsychotika verabreichen zu können. In Rotenburg wurden Kinder in Zellen gesperrt oder ihnen wurde damit gedroht. Hier hatten wir aktuell wieder ein System, bei dem alle mitmachten.

Ein Verdacht auf eine Straftat reicht aus, um Patienten längere Zeit in der geschlossenen Abteilung unterzubringen und ihn zwangsweise mit Medikamenten zu behandeln. Hier als Beispiel ein Auszug aus einem Antrag zur Zwangsbehandlung in einer deutschen Psychiatrie aus diesem Jahrzehnt: Gefordert werden täglich 150 mg Xeplion (Höchstdosis). „Falls der Patient dem vorgeschlagenen medikamentösen Regime nicht zustimmt, sollte ihm Haloperidol 5 – 10 mg i.m.2xtägl. appliziert werden, um ihn zu motivieren, der Medikation mit Xeplion, wobei die intramuskulöse Dosierung wie oben skizziert erfolgen sollte, zu akzeptieren.“ Laut Wikipedia hat Xeplion keinen therapeutischen Nutzen und viele Nebenwirkungen. Im April 2014  kam aus Japan die Meldung, dass 17 Patienten, die Xeplion gespritzt bekamen, verstorben sind. Ich muss mir leider die Frage stellen, ob einige Mitarbeiter in der Psychiatrie Sadisten sind. Unsere Gesellschaft hat folgendes Problem:

Dulden wir seelische Erkrankungen im öffentlichen Raum?

Möchten wir, dass die Betroffenen glücklich werden oder wollen wir sie mit Medikamenten und Zwangsmaßnahmen so formen, wie wir sie haben möchten?

Warum begehen so viele Menschen unter Psychopharmaka eine Selbsttötung oder auch Amokläufe? Die Pillen und Spritzen allein heilen leider nicht die Erkrankung. Die Wissenschaft ist noch nicht soweit. Bei jedem Patienten muss erst erforscht und probiert werden, welches Medikament in welcher Dosis hilfreich ist. Zusätzlich ist anschließend eine Gesprächs- und Verhaltenstherapie erforderlich. Eine alte Methode aus der Zeit vor den Nazis ist die Elektrokrampftherapie (EKT), die bis heute teilweise bei schweren Depressionen angewandt wird, aber erhebliche gesundheitliche Risiken hat. Früher (1933-45) fragte man „Was kostet die Gesellschaft ein Behinderter?“ Heute fragt man oft: „Wie helfe ich einem Behinderten?“ Aber auch: „Was verdiene ich an einem Behinderten?“ Hier sind vor allem die Rechtsbetreuer gemeint.

Die Akzeptanz psychischer Erkrankungen hat sich in der Öffentlichkeit durch die vielen Berichte in den Medien und Darstellungen in Filmen gebessert. Die Inklusion, Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten, wird zukünftig sehr hilfreich sein. Die Anteilnahme an seelischen Erkrankungen steigt. Ich denke hier besonders an den Abschied von Robert Enke in Hannover.

Bis der mündige Patient in der Psychiatrie geschaffen wird, werden noch viele Jahre vergehen. Die Patienten dürfen keine Angst mehr vor dem System haben. Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient muss entstehen. Um diese Ziele zu erreichen, muss das System grundsaniert werden. Bremen hat sich 2013 für eine zweite Psychiatriereform entschieden.

 

Detlef Tintelott    25.07.2018